Aktuell schaut die LGBTIQ+ Gemeinschaft besonders nach Polen, einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union mit seinen LGBT-freien Zonen. Direkt hinter der Grenze herrschen für die LGBT Community aber ähnlich prekäre Verhältnisse. Die geografische Lage von der Ukraine, eingeklemmt zwischen Polen und Russland, ist fast bezeichnend dafür, wie es ist, schwul in der Ukraine zu sein und wie es aktuell im Land für die LGBTQ+ Community aussieht. Couple of Men Reporterin Sarah hat sich im Rahmen einer eigens für Aktivisten und Journalisten organisierten online Veranstaltung über die Lage der LGBTQ+ Community in dem osteuropäischen Land informiert. Dabei konnte sie mit einheimischen Journalisten und Aktivisten sprechen und sich ein Bild über die LGBTQ+ und Schwulenfreundlichkeit in der Ukraine machen. Nach Georgien, dem Libanon, Laos, Myanmar, Vietnam, Kambodscha, Russland, Belarus und der Republik Moldau (Moldawien), fertigt sie nun eine Analyse zum Thema ‘LGBTQ+ und schwul in der Ukraine’ für Couple of Men an.
von Sarah Tekath
Wenig Rechte für die LGBTQ+ Community
Schon ein Blick auf die Gesetzeslage zeigt, wie wenig die Bedürfnisse der LGBTQ+ Community in der Ukraine wahrgenommen werden. Zwar bestehen Anti-Diskriminierungsgesetze am Arbeitsplatz, gleichgeschlechtlicher Sex ist legal und LGBT dürfen in der Armee dienen. Im Jahr 2019 präsentierten sich mehrere ukrainische Soldaten beim Foto-Projekt ‘We are here‘ als offen schwul. Doch jede Form von gleichgeschlechtlicher Beziehung wird vor dem Gesetz nicht anerkannt und auch die Adoption von Kindern ist nur als Individuum möglich, jedoch nicht als schwules oder lesbisches Paar. Auch Blutspenden ist für LGBTQ+ Personen aktuell nicht möglich und auch gegen Hass-Reden wird derzeit nicht vorgegangen.
„Die religiöse Lobby beeinflusst die Politik sehr stark und viele Politiker nutzen LGBT-Themen zu ihrem Vorteil aus“, sagt Sviatoslav Sheremet, LGBT- und Transgender-Aktivist vom National MSM Consortium. Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen in der Politik. Derzeit wird ein Gesetzesentwurf für durch Homophobie und Transphobie motivierte Hassverbrechen diskutiert ebenso wie die Möglichkeit, gleichgeschlechtliche Beziehung als Partnerschaft anerkennen zu lassen.
Gay Travel Index 2020/21
Die jährlich aktualisierte Rangliste des Gay Travel Index für 2021 von Spartacus informiert Reisende über die Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender in 202 Ländern und Regionen verteilt auf die ganze Welt. Welche Länder sind schwulenfreundlich? Wo müssen LGBTQ+ Reisende besonders aufpassen?
Kiew Pride wächst stetig
Trotzdem nimmt die Sichtbarkeit der LGBT Community in der Ukraine von Jahr zu Jahr zu. Seit 2012 werden Pride-Veranstaltungen organisiert, seit 2016 sogar offiziell durch ein Pride-Komitee. Ruslana Panukhnyk ist eine der Organisator*innen des Kyiv Pride und sagt: „Jede Pride-Veranstaltung ist eine große Herausforderung für die Organisatoren. Im Jahr 2013 gab es beispielsweise nur 80 Teilnehmer, 2019 waren es schon 8.000.“ Außerdem kämen jährlich mehr regionale Veranstaltungen außerhalb von Kiew hinzu. Mittlerweile seien auch vertrauensvolle Verhältnisse mit den örtlichen Behörden entstanden, so etwa mit der Polizei oder der Stadtverwaltung, sagt sie. Immer häufiger seien auch Vertreter großer und kleiner örtliche Unternehmen beim ‘March of Equality’ zu sehen – beispielsweise die größte Bank des Landes und das größte ukrainische Taxiunternehmen. „In Kiew waren auch Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums dabei“, erklärt die Aktivistin.
Jährlich würde das Komitee auch versuchen, ukrainische Stars für sich zu gewinnen. Durch deren Teilnahme an Kampagnen würde noch mehr Aufmerksamkeit generiert. Für großes Aufsehen sorgte allerdings auch ohne VIPs eine Aktion von Kyiv Pride, als die Organisatoren im Sommer 2020 eine Regenbogenflagge per Drohne zum ‘Motherland Monument‘ flogen und eines der größten Einkaufszentren der Stadt in der Nacht mit Regenbogenfarben beleuchteten. Die Entwicklungen rund um die Pride sieht Panukhnyk sehr positiv: „Wir sind sehr froh über die zunehmende Unterstützung, wir werden weiter an unserer Sichtbarkeit arbeiten und in Zukunft noch lauter sein für die LGBT Community in der Ukraine.“
Schwul in der Ukraine: Konflikt mit Russland verschlimmert Lage
Allerdings habe auch die Anzahl der Hassverbrechen gegen LGBT in den letzten Jahren stark zugenommen, weiß Svetlana Valko, Expertin für Hassverbrechen gegen Aktivisten, LGBT und Journalisten. „Früher kamen die Angriffe eher von Einzelpersonen, aber mittlerweile erkennen wir eine deutliche Systematik und Organisation der Gewalt durch radikale Gruppen“, erklärt sie. Den Grund dafür sieht die Aktivistin in dem seit 2014 andauernden Krieg mit Russland nach der Invasion im Osten des Landes. „Jeder bewaffnete Konflikt führt zum Anstieg von Nationalismus und Radikalisierung“, so Valko. Soldaten, die von der Front zurückkämen, schlössen sich danach oft ‚patriotischen‘ Gruppierung an, die sich im rechtsradikalen Milieu bewegen.
Schwulsein in Russland
Auch wenn Homosexualität in Russland offiziell nicht illegal ist – seit 1993 sind gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen legal – so wurde jedoch im Jahr 2013 ein Gesetz verabschiedet, das es unter Strafe stellt, sich in Anwesenheit Minderjähriger positiv über Homosexualität zu äußern.
Besonders typisch seien körperliche Angriffe auf LGBT-Events und sogenannte Safaris, bei denen Radikale Jagd auf LGBT machten. Mittlerweile sei es sogar schon so, dass radikale Gruppen bei geheimen Treffen von LGBT-Organisationen eindringen würden, um die Aktivisten einzuschüchtern. Alternativ werden Gegen-Veranstaltungen in der Öffentlichkeit organisiert. „Vor 2015 hatten wir nie so eine hohe Zahl von Angriffen auf LGBT“, erklärt die Aktivistin.
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Gerade in den besetzten Gebieten verschlechtere sich die Lage für LGBT durch die vorherrschende konservative Haltung Russlands gegenüber LGBT. In den vergangenen drei Jahren hätten auch die Angriffe auf Journalisten erheblich zugenommen. Ebenso werden aktuell immer häufige Feministinnen zum Ziel von Gewalt, weil deren Forderungen den ‚traditionellen‘ Werten radikaler Gruppierung entgegenstehen und als homosexuelle Propaganda verstanden werden.
Gewalttätige Übergriffe auf LGBT, Aktivisten und Journalisten würden aber von der ukrainischen Obrigkeit kaum geahndet, da der Tatbestand der Hassverbrechen nicht in der Legislatur zu finden sei. Auch innerhalb der Polizei sei Homophobie ein großes Problem. Oft würden Übergriffe deswegen gar nicht erst zur Anzeige gebracht.
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LGBTQ+ ist oft kein Thema in Familien
Die immer noch fehlende Sichtbarkeit von LGBT im privaten Bereich, außerhalb von Pride-Veranstaltungen, zeigt sich sowohl im Familienleben als auch im ukrainischen Schulunterricht, wo LGBT kein Thema ist. Eine, die das ändern möchte, ist Olena Globa, die im Jahr 2013 zusammen mit einigen anderen Frauen die Eltern-Organisation TERGO gründete. Ihr Antrieb damals: Eltern als Verbündete auf die Seite von LGBT zu bringen. Anfangs hätten sich vornehmlich verzweifelte Eltern an die NGO gewendet, mit der Bitte um Hilfe. „Häufig hieß es dann: Hilfe, unser Sohn ist schwul. Wir wissen nicht, was wir machen sollen. Bitte, helfen Sie uns!“, erinnert sie sich. Viele Eltern seien immer noch nicht bereit, persönlich bei TERGO zu erscheinen, weshalb auch Beratungen wie Telefon oder Skype angeboten werden. Oft verzichteten LGBTQ+ Teenager innerhalb ihrer Familien auch auf ein Coming-out, da sie negative Reaktionen fürchten würden.
Um mehr Toleranz und Verständnis zu erreichen, setzt TERGO auf Präsenz in den Medien und bei Pride-Events. Gerade in Zeiten von Corona arbeitet die NGO mit Youtube-Kampagnen, Postern, etc. Allerdings sei es immer noch nicht einfach, Eltern zur Anwesenheit bei Pride-Veranstaltungen zu bewegen, sagt Globa. „Unsere Eltern sind sehr schüchtern und weigern sich, Aktivisten zu werden. Aber nach der Pride, wenn sie gesehen haben, wie stolz ihre Kinder mitgelaufen sind, fühlen sie sich bestärkt. Sie wollen ihre Kinder dann nicht nur unterstützen, sondern wollen sich aktiv an deren Kampf für gleiche Rechte beteiligen.“
Zu wenig Aufklärung in ukrainischen Schulen
Seit 2016 bietet TERGO auch Toleranz-Trainings für Unternehmen und für Lehrer an. Allerdings wurde ein solches auch bereits einmal von einer radikalen Gruppe angegriffen. Gerade Lehrer würden sich im Schulalltag einem Spagat gegenübersehen: „Sie erkennen, dass die Kinder LGBT sind, aber die Eltern wissen davon nichts“, erklärt Globa.
Schwulsein in Georgien
Der aktuelle Spartacus Gay Travel Index von 2019 stuft Georgien in seinem Ranking auf Platz 95 ein, mit einer Gesamtbewertung von -2. In Kategorien, wie gleichgeschlechtlicher Ehe, Antidiskriminierungsgesetzen oder Transgender-Rechten, schneidet das Land nur in einem einzigen Fall mit einer positiven Bewertung ab.
Im Allgemeinen sei LGBT im Sexual-Unterricht in der Schule kein Thema, sagt die Aktivistin. „Begriffe wie Transgender oder Homosexualität werden gar nicht erwähnt. In den wenigen Stunden des Sexualunterrichts, die verpflichtend sind, werden nur die biologischen Grundlagen erklärt. Ich glaube nicht, dass die Kinder in der Lage sind, in dieser Kürze irgendetwas zu verstehen. Von einem ausgewogenen Unterricht kann hier keine Rede sein, weil nur eine einzige Perspektive dargestellt wird.“
Viele Lehrer würden das Mobbing von LGBT-Schülern sogar unterstützen, oder zumindest nicht unterbinden, weiß Maryna Shevtsova, Programmkoordinatorin bei TERGO, die seit Jahren zum Thema eines sicheren und gesunden Schulumfeldes für LGBT-Schüler in der Ukraine forscht.
„In den Jahren 2017 und 2020 wurden zwei nationale Untersuchungen durchgeführt, mit mehr als 700 ukrainischen Schülern im Alter von 13 bis 16 aus dem ganzen Land, die sich als LGBT identifizieren. Die meisten Antworten der Online-Untersuchungen erhielten wir in der Nacht, wenn die Schüler sich sicher fühlten, nicht von den Eltern entdeckt zu werden“, erklärt sie. Die Zahlen von 2017 seien erschreckend gewesen, sagt sie. 48,7 Prozent der Schüler gaben an, sich in ihrem Schulumfeld nicht sicher zu fühlen. 88,5 Prozent hätten bereits Erfahrungen mit verbaler Gewalt gemacht, ca. 60 Prozent davon bezüglich ihrer Sexualität. 89,6 Prozent bestätigten, das Wort ‚schwul‘ einzig im negativen Kontext zu hören. 55,3 Prozent der Befragten gaben an, bei der Bitte der Schulleitung um Hilfe gegen Mobbing ignoriert worden zu sein. Mehr als 60 Prozent gaben zu, in ihrem Umfeld keine erwachsene Vertrauensperson zu haben. Die Ergebnisse von 2020 liegen zum Redaktionsschluss noch nicht vor, Shevtsova erwartet jedoch keine merklichen Verbesserungen.
Schwul in der Ukraine: Höhere Selbstmordwahrscheinlichkeit bei LGBTQ+ Teenagern in der Ukraine
Diese Ergebnisse führen nach Forschungen der Aktivistinnen dazu, dass die Selbstmordwahrscheinlichkeit unter LGBT-Teenagern vier Mal höher ist als normal. Ebenso seien mehr Fälle von Depressionen und Angstzuständen zu erkennen. Um dem entgegenzuwirken, hat TERGO bis heute mehr als 40 zweitägige Trainings mit Experten und Psychologen für Lehrer*innen und Schulleiter*innen durchgeführt. Neuerdings wird auch ein Online-Kurs angeboten, mit dem Titel: School for all: A safe school environment.
Allerdings haben mittlerweile auch radikale Gruppen das Konzept der Kurse und Trainings für sich entdeckt und propagieren dabei ‚traditionelle‘ Familien-Werte, weiß die Aktivistin. In vielen Regionen sei auch die Weiterbildung zum Thema LGBT durch die Angebote von TERGO nicht möglich, da die örtlichen Regierungen dies unterbinden würden. Auch (finanzielle) Unterstützung des ukrainischen Staates bliebe völlig aus. Trotzdem setze TERGO weiterhin darauf, Sichtbarkeit zu schaffen. Denn nur so ließe sich irgendwann LGBT als Normalität in der ukrainischen Gesellschaft erreichen.
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